Mittwoch, Dezember 18, 2024
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Franziska Saxler auf der herCAREER 2024

„Je diskriminierender die Machtstrukturen sind, desto mehr Belästigung ist möglich“

Ein anzüglicher Witz, ein Kompliment, eine Einladung zum Essen – wo beginnt sexualisierendes oder machtmissbräuchliches Verhalten im Berufsalltag? Im Interview beschreibt die Psychologin Franziska Saxler sowohl menschliche als auch systemische Muster sexualisierter Gewalt und gibt Tipps zur Prävention und zum Umgang mit Grenzüberschreitungen in Unternehmen. Die Autorin des Buches „Er hat dich noch nicht mal angefasst“ ist selbst Betroffene – die Mitinitiatorin von #metooscience hat während ihrer Promotion Belästigung durch ihren Doktorvater erfahren.

„Gewalt ist ein Spektrum, in dem sogenannte Mikro- und Makroexpressionen – also kleine und große Dinge – vorkommen“

herCAREER: Franziska Saxler, dein Buch enthält viele Fallbeispiele, darunter auch deine eigene Belästigungserfahrung. Welche Muster sind dir aufgefallen?

Franziska Saxler: Immer spielt eine Person ihre Macht so aus, dass eine andere Person leidet und gegebenenfalls ihre Arbeitssituation verändern muss. Was in allen Interviews und auch in meiner Arbeit mit #metooscience auffällt, ist, dass Täter oft schrittweise die Grenzen der Betroffenen austesten und die Belästigung immer weiter treiben. Und: viel zu häufig werden die Erfahrungen der Betroffenen angezweifelt oder relativiert. Sie bekommen nicht das Gehör, das sie verdient haben.

herCAREER: Wer sind die Belästigenden?

In den allermeisten Fällen Männer. Etwa 85 Prozent der sexuellen Belästigungen werden laut Statistik von Männern an Frauen begangen. Sie haben verschiedene Charakterzüge gemeinsam: relativ wenig Einfühlungsvermögen und ein starkes Machtmotiv. Oft haben sie selbst schmerzhafte Erfahrungen gemacht, aber nie verarbeitet. Die Forschung zeigt auch, dass Männer, die an traditionelle Bilder von Männlichkeit, Weiblichkeit und Geschlechterrollen glauben, eher motiviert sind, zu belästigen.

herCAREER: Was haben die Betroffenen gemeinsam?

Es sind nicht etwa die vermeintlich schlechten Opfer, die angeblich einen zu kurzen Rock getragen oder sich sexuell freizügig verhalten haben. Vielmehr gehören sie häufig mehrfach diskriminierten Gruppen an: Frauen oder Menschen, die von Geschlechterstereotypen abweichen, Women of Color, Frauen mit Behinderung und nicht-binäre Menschen. Hier wird deutlich, dass Belästigung vor allem Ausdruck von Macht ist, denn diese Gruppen bekommen Machtgefälle auch sonst im Alltag deutlicher zu spüren.

herCAREER: Die Statistik besagt: 60 Prozent der Frauen, queeren Männer und nicht-binären Personen geben an, in den letzten 8-12 Monaten mindestens einmal belästigendes Verhalten am Arbeitsplatz erlebt zu haben. Was bedeutet das für Arbeitgeber:innen?

Es bedeutet, dass sie ihrer Pflicht, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor solchem Verhalten zu schützen, nicht ausreichend nachkommen. Wenn Unternehmen sich also DE&I auf die Fahne schreiben – wenn wir Menschen mit verschiedensten Hintergründen am Arbeitsplatz vertreten sehen wollen –, kommen sie nicht umhin, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Auch und gerade über die Fälle, die nicht in einem strafrechtlich relevanten Kontext stattfinden, denn auch die haben schädliche Auswirkungen. Und zwar nicht nur auf die Psyche der Betroffenen, sondern auch auf Motivation und Mitarbeiterfluktuation.

herCAREER: Das betonst du auch in deinem Buch und es spiegelt sich im Buchtitel „Er hat dich noch nicht mal angefasst“: Sexualisierte Gewalt findet in einem Spektrum statt. Ist das Thema deshalb so komplex?

Ja. Gewalt ist ein Spektrum, in dem sogenannte Mikro- und Makroexpressionen – also kleine und große Dinge – vorkommen. Es ist wichtig, über das gesamte Spektrum zu sprechen, denn auch die kleinen Dinge haben negative Konsequenzen für die Betroffenen.

herCAREER: Was ist ein Beispiel für vermeintlich „kleine Vorfälle“?

Wiederholte Witze über Frauenkörper zum Beispiel, unangenehme Gesten oder objektifizierende Kalender im Pausenraum. Diese „kleinen“ Dinge wirken so stark, weil meistens der ganze Arbeitskontext davon geprägt ist. Das macht es für die Betroffenen so schwer, darüber zu sprechen, was wiederum Auswirkungen auf die Psyche und die Arbeitsmotivation hat.

herCAREER: Gibt es Unternehmenskulturen, die sexualisierte Gewalt begünstigen?

Je diskriminierender die Machtstrukturen sind, desto mehr Belästigung ist möglich. So kommt es in Unternehmen, die stark hierarchisch, kompetitiv und männlich dominiert sind, häufiger zu Vorfällen sexualisierter Belästigung. Wir wissen aus der Forschung, dass eine frauenfeindliche Einstellung eben nicht nur sexistische Witze begünstigt, sondern zu stärker belästigendem Verhalten führt. Deshalb ist es so wichtig, schon bei den niederschwelligen Vorfällen genau hinzusehen.

herCAREER: Bedeutet das, dass der Mann, der die Olympionikin Rebecca Cheptegei in Kenia angezündet und ermordet hat, mit dem Mannschaftsarzt, der eine Turnmannschaft sexuell missbraucht, oder dem Vorgesetzten, der mit seinem Teammitglied zu flirten versucht, in Zusammenhang steht?

Ja, das hängt zusammen. Wir normalisieren, dass Frauen objektifiziert werden und dass sie als Ventil zur Verfügung stehen.

herCAREER: Kannst du das als Psychologin näher beleuchten?

Wenn Frauen und weiblich gelesene Personen als Objekte wahrgenommen werden, wird ihnen zumindest ein Teil ihrer Menschlichkeit genommen. Frauen dienen dem Täter dann als Ventil für die eigenen schlechten Gefühle. Gerade Hass ist ein Gefühl, das sich besonders gut auf Gruppen lenken lässt. So verlieren die Täter schnell die eigentliche Ursache ihrer Gefühle aus den Augen. Wenn Mütter dann auch noch sagen: „boys will be boys“ oder Freunde sagen: „er war halt betrunken“, dann signalisiert das, dass frauenfeindliches Verhalten keine Konsequenzen hat. So wird ein System geschaffen, in dem Täter lernen, ihren Hass auf andere zu projizieren, anstatt sich mit ihren seelischen Verletzungen auseinanderzusetzen. Dort wo Blut fließt, sollten eigentlich die Tränen dieser Männer fließen.

herCAREER: Was entgegnest du Stimmen, die sagen: „Aber nicht alle Männer… !“?

Ich entgegne, dass sie vom Thema ablenken. Dass nicht alle Männer Täter sind, ist völlig klar. Aber dass sowohl Männer als auch Frauen eine Sozialisation durchlaufen, die sexistisches Verhalten normalisiert, ist auch klar. Wer mit #notallmen vom Gespräch ablenkt, suggeriert, dass es kein Problem gibt, und wird auch den Männern, die echte Allys sind, nicht gerecht. Wer aber die systemischen Probleme anerkennt und ihnen mit einer gesunden Fehlerkultur begegnet, der kann etwas verändern.

herCAREER: Ein Narrativ, das sich hartnäckig hält, ist, dass Frauen sich „hochschlafen“. Wie stehst du dazu?

Wer in der Machtposition ist, trägt die Verantwortung! Dieses Narrativ ignoriert das Abhängigkeitsverhältnis völlig. Es negiert, wie schwer es ist, sich zu wehren, wenn man auf das Wohlwollen eines Kollegen oder Chefs angewiesen ist. Alle geben den Betroffenen die Schuld, aber niemand fragt, wer eigentlich seine Macht ausgenutzt hat. Das ist die klassische Täter-Opfer-Umkehr.

herCAREER: Und eine Erinnerung daran, dass sexualisierte Gewalt immer ein Machtmotiv hat. Am Arbeitsplatz ist es besonders wirkungsvoll. Warum?

Weil gerade Frauen am Arbeitsplatz doppelt gefährdet sind. Belästigende sind sich durchaus bewusst, dass potentielle Betroffene am Arbeitsplatz besonders ausgeliefert sind: Zunächst geht es um den Lebensunterhalt. Aber diese Frauen haben auch alle in ihre Karriere investiert – das gibt man nicht einfach auf. Betroffene werden sich vermutlich nicht lautstark wehren, wenn der Chef ihnen auf dem Sommerfest an den Po fasst. Sie können auch den Kollegen nicht blockieren, der doppeldeutige Nachrichten via Slack schickt. Viel zu oft sind Belästigte am Arbeitsplatz auf die Gunst der Belästigenden angewiesen. Nicht zuletzt, weil Frauen sich nur durch finanzielle Unabhängigkeit auch vor Machtmissbrauch im Privaten schützen können.

herCAREER: Nehmen wir an, ich werde Zeug:in sexualisierter Gewalt, sei es im Meeting oder auf der Weihnachtsfeier. Was kann ich tun?

Dich ganz klar positionieren. Gerade als Führungsperson kann man sehr gut sagen: „So eine Sprache dulden wir hier nicht. So gehen wir hier nicht miteinander um. Wir dulden keine sexualisierte Gewalt, in keiner Form.“ Auf die betroffene Person kannst du zugehen und fragen: „Was brauchst du?“

herCAREER: Und dann? Wie kann ich Betroffene als Kolleg:in, Freund:in oder Vertrauensperson am besten unterstützen?

Vor allem ist es wichtig, sehr, sehr gut zuzuhören, den Schilderungen Glauben zu schenken und Grenzen zu respektieren. Was Betroffene in solchen Situationen brauchen, kann sehr unterschiedlich sein. Manche wollen auch keine offizielle Meldung oder sogar Anzeige erstatten. Viele wollen nicht mit den Tätern konfrontiert werden, sondern in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen.

herCAREER: Im Buch schreibst du, dass es wichtig ist, sexualisiertes Verhalten zu melden, damit es eine Grund- und Beweislage gibt, um gegebenenfalls Konsequenzen zu ziehen. Gleichzeitig ist bekannt, dass Opfer eine Retraumatisierung erleben können, wenn sie zur Aussage gedrängt werden. Wie also am besten vorgehen?

Wir dürfen den Betroffenen niemals die Schuld oder Verantwortung für die erlebten Übergriffe geben. Es ist nicht ihre Aufgabe, darüber zu sprechen. Es ist auch nicht ihre Aufgabe, andere zu schützen. Was Organisationen tun können, ist, den Betroffenen sichere Räume zur Verfügung zu stellen, sei es für Gespräche oder für den zukünftigen Arbeitsalltag.

herCAREER: Wie können sichere Räume aussehen? Welche Strukturen können Unternehmen bieten?

Ein erster Schritt ist, dass ich als Unternehmen regelmäßig und offen kommuniziere, dass das Thema Geschlechtergerechtigkeit und geschlechtsspezifische Diskriminierung sowie alle damit zusammenhängenden Themen ernst genommen werden. Unternehmen können interne oder – noch besser – unabhängige Beschwerdestellen einrichten und transparente Strukturen und Prozesse anbieten. Indem eine Organisation diese Haltung nach innen, außen und gegenüber allen neu Eingestellten so kommuniziert, tut sie bereits viel für das Vertrauen der Belegschaft.

herCAREER: Zum Ende des Buches spricht du über Heilung. Welchen Rat kannst du Betroffenen geben?

Ich finde es wichtig, maximales Mitgefühl mit sich selbst in dieser Situation zu haben. Was nicht bedeutet, dass man sich selbst bemitleiden soll! Aber die eigene Perspektive und Erfahrung darf und muss ernst genommen werden. Sie gehört da hin! Außerdem ist es wichtig, sich abzugrenzen, sich zu erlauben, Verbindungen zu kappen, die nicht guttun. Distanz zu schaffen, ob innerlich oder äußerlich, in Form einer beruflichen Veränderung. Was mir sehr geholfen hat, ist die Verbindung mit Menschen, die meine Erfahrung, Perspektive und Werte teilen. Nicht alle, aber die meisten von ihnen sind Frauen. Denn Belästigung ist leider eine Erfahrung, die die meisten Frauen auf dieser Welt schon gemacht haben.

Im Rahmen der herCAREER Expo spricht Franziska Saxler am Freitag, den 18.10.2024, um 14:40 Uhr mit Annette von Wedell und Katja Anclam, Vorständinnen von female-vision e.V., unter dem Titel “Er hat dich noch nicht mal angefasst: Sexualisierte Belästigung und Machtmissbrauch im Job – und wie wir uns davor schützen können

 

Das Gespräch führte herCAREER-Redakteurin Kristina Appel.

Bild Franziska Saxler forscht zu Mechanismen der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und interkulturelle Geschlechterforschung Mitinitiatorin des Hashtags #metooscience © Elisa Mux

 

Quelle messe.rocks GmbH

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