Dienstag, November 26, 2024
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Feature: Ärztin? Ingenieurin? Verblassende Träume afghanischer Mädchen

Kandahar, 23. Feb – In einem kühlen Klassenzimmer in der südafghanischen Provinz Kandahar, dem Geburtsort der Taliban-Bewegung, brüten Mädchen im Teenageralter über islamischen Texten, während eine körperlose Männerstimme aus dem Lautsprecher schallt. Die Schülerinnen der Mädchen-Madrasa Taalum-ul-Islam, einer religiösen Schule, schicken über den Klassen-Laptop abwechselnd Fragen per E-Mail an den Gelehrten. Es ist männlichen Lehrkräften verboten, die Stimmen der Schülerinnen persönlich zu hören.

Rund 400 Mädchen werden in dieser Schule unterrichtet. Die Zahl hat sich im vergangenen Jahr etwa verdoppelt, wie Mitarbeiter der Madrasa berichten, die Reuters einen seltenen Zugang gewährten. Grund sei die Entscheidung der Taliban-Regierung, Mädchen und Frauen von den meisten weiterbildenden Schulen und Universitäten auszuschließen. Auch an anderen religiösen Mädchenschulen ist die Zahl der Schülerinnen deutlich gestiegen, wie Reuters bei Besuchen in vier Madrasas und bei Gesprächen mit mehr als 30 Schülerinnen, Eltern, Lehrern und Beamten in zehn Provinzen des Landes erfuhr.

Eine dieser Schülerinnen ist die 17-jährige Mursal. Ihre Eltern wollen ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen, zum Schutz der Privatsphäre. Mursal geht seit drei Monaten auf eine Madrasa im Norden Kabuls. „Ich wollte später einmal Ärztin werden, aber das ist jetzt unmöglich geworden“, sagt sie. Ihre Schulausbildung wolle sie aber fertig machen. Die Möglichkeit, auf eine religiöse Schule zu gehen, findet sie gut. Aber es schränke sie ein. „Wenn man auf eine Madrasa geht, kann man nur Lehrerin werden“, sagt sie.

KLEIDERVORSCHRIFTEN UND MÄNNLICHE AUFPASSER 

Die Bildung von Frauen steht im Mittelpunkt des Konflikts zwischen dem Westen und der Taliban-Regierung, die kein Land offiziell anerkennt. Die US-Regierung führt die Rechte der Frauen als Haupthindernis für die Normalisierung der Beziehungen und die Freigabe dringend benötigter Mittel an. Nach der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban zuerst Schülerinnen von den weiterführenden Schulen ausgeschlossen und danach Studentinnen von den Universitäten verwiesen. Schließlich verboten sie afghanischen Frauen, für Hilfsorganisationen (NGOs) zu arbeiten. Allein vom Verbot des Besuchs von weiterführenden Schulen sind mehr als eine Million Mädchen betroffen, wie es im Afghanistan-Jahresbericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) heißt. Dadurch habe sich die Bildungskrise in dem Land verschärft – Anfang 2022 seien schätzungsweise 2,4 Millionen Mädchen überhaupt nicht zur Schule gegangen.

Die Taliban hätten gar nichts dagegen, dass Mädchen in die Schule oder in die Universität gingen, sagt der Sprecher des Informationsministeriums, Abdul Maten Qanee. Es gebe jedoch noch einige Hürden, etwa die einiger gemischtgeschlechtlicher Einrichtungen sowie Mädchen, die Kleidervorschriften nicht nachkämen oder ohne männlichen Aufpasser das Haus verließen. „Wir haben 20 Jahre für unsere Werte gekämpft und wollen nur, dass die Regeln eingehalten und umgesetzt werden“, sagt Qanee. Kultur, Traditionen und Wertvorstellungen der Afghanen sollten berücksichtigt werden. Auch Frauen sollten eine moderne Ausbildung erhalten. Derzeit prüfe ein Regierungsausschuss, ob neben dem Religionsunterricht auch säkulare Fächer in den Madrasas unterrichtet werden sollten.

UNTERSCHIEDE IN GRÖßE, STRENGE, KOSTEN

Religionsschulen sind seit Jahrhunderten Teil des afghanischen Lebens. Sie bieten in der Regel nicht die Ausbildung, die für eine Karriere in den Bereichen Jura, Medizin, Ingenieurwesen oder Journalismus erforderlich ist. Aktuelle Zahlen darüber, wieviele Madrasas es in Afghanistan gibt, liegen nicht vor. Die Zahl habe aber unter der Vorläufer-Regierung zugenommen und werde weiter steigen, sagt Ministeriumssprecher Qanee. Die vorherige, vom Ausland unterstützte Regierung hatte im Januar 2021 landesweit etwa 5000 Madrasas mit insgesamt rund 380.000 Schülern registriert – davon etwa 55.000 Mädchen.

Die Madrasas selbst sind sehr unterschiedlich strukturiert, von großen Einrichtungen mit Hunderten von Lernenden in den Städten bis hin zu Dorfmoscheen, in denen nur eine Handvoll Kinder unterrichtet wird. Die in der Regel nach Geschlecht getrennten Schulen unterscheiden sich auch in Bezug auf ihre Standards, ihre Strenge, die Anzahl der Öffnungstage und die veranschlagten Gebühren. Die von Reuters besuchten Madrasas kosten zwischen umgerechnet etwa 50 Cent bis zu zwei Dollar pro Monat. Das ist für viele Familien in Afghanistan unerschwinglich.

„ICH GLAUBE NICHT, DASS SICH MEIN TRAUM ERFÜLLT“

Madrasas könnten zwar keine offiziellen Schulen ersetzen, aber sie seien eine der letzten Möglichkeiten, die Mädchen und Frauen noch zur Verfügung stünden, sagt Ashley Jackson, Co-Direktorin des Centre on Armed Groups. Sie erfüllten das Bedürfnis nach Lernen, nach Freundschaften und einer Möglichkeit, aus dem Haus zu kommen, sagen die Betroffenen. Marzia Noorzai, eine 40-jährige Frauenrechtsaktivistin aus der südwestlichen Provinz Farah, erzählt, dass ihre Nichten letztes Jahr das Abitur gemacht hätten und jetzt jeden Tag eine örtliche Madrasa besuchten. „Nur um sie zu beschäftigen, weil sie deprimiert waren.“ Der Religionsunterricht gebe ihr ein Gefühl von Glück und Frieden, sagt eine Lehrerin der Taalum-ul-Islam-Madrasa. „Der Islam gibt uns Frauen Rechte“, sagt die Anfang- Zwanzig-Jährige, die anonym bleiben will. „Ich will diese Rechte, nicht die westliche Version von Frauenrechten.“ 

Für andere ist der Religionsunterricht eigentlich nicht genug. „Ich bin in die Madrasa gegangen, weil wir zu Hause nicht lernen konnten und unsere Schulen geschlossen sind. Jetzt lerne ich den Koran“, sagt Mahtab, eine 15-jährige Schülerin der Mansour-Muslim-Madrasa in Kabul. Auch sie hatte große Pläne für ihre Zukunft und wollte Ingenieurin werden. „Ich glaube nicht, dass sich mein Traum erfüllt.“

Feature: Ärztin? Ingenieurin? Verblassende Träume afghanischer Mädchen

Quelle: Reuters

Symbolfoto: Bild von David Mark auf Pixabay

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