Zürich, 12. Feb (Reuters) – Jahrzehntelang hat die Pharmabranche in der Schweiz in der besten aller Welten gelebt: Zugang zu Spitzenforschern, niedrige Steuern und Politiker, die den Firmen die Wünsche von den Lippen ablasen. Doch diese Standortvorteile drohen nach und nach untergraben zu werden. Am Sonntag stimmen die Schweizer darüber ab, ob Tierversuche und Forschung am Menschen verboten werden. „Das wäre das Ende für neue Medikamente und neue Therapien“, sagt Jean-Paul Clozel, Chef der Biotech-Firma Idorsia. Doch auch wenn der radikale Vorschlag einer Volksinitiative kaum Chancen hat, können sich Roche, Novartis & Co nicht zurücklehnen: Der im Großraum Basel konzentrierten Industrie, die mit rund einem Drittel der Warenexporte der Wachstumsmotor des Landes ist, drohen noch andere Gefahren.
ANSCHLUSS AN DIE SPITZENFORSCHUNG IN GEFAHR
Für geradezu dramatisch halten es Experten und Branchenvertreter, dass die Schweiz nach dem Scheitern der jahrelangen Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der Europäischen Union aus dem weltgrößten Forschungsprogramm Horizon ausgeschlossen wurde. Fördermittel in dreistelliger Millionenhöhe pro Jahr fallen weg, der Austausch mit anderen Wissenschaftlern wird erschwert und die Schweiz läuft Gefahr, den Anschluss an die Spitzenforschung zu verlieren. Ohne Aussicht auf eine Beteiligung an bedeutenden multinationalen Forschungsvorhaben und prestigeträchtige Preise würden Topleute wohl künftig einen Bogen um das Land machen.
„Wenn die besten Forscher wegen des Ausschlusses aus Horizon abwandern würden, dann hätte das eine negative Signalwirkung auf die Attraktivität der Schweiz als Standort für die Forschung im Life-Science-Bereich“, sagt Marie-Lyn Hecht, Pharmaspezialistin beim Beratungsunternehmens EY. Rene Buholzer, Geschäftsführer des Branchenverbands Interpharma verweist auf die Bedeutung von Kooperationen: „Studien belegen, dass Vernetzung absolut zentral ist, auch für das Fortkommen einer akademischen Karriere.“ Und Patrick Emmenegger, Politologie-Professor an der Universität St. Gallen, ergänzt: „Forschung ist extrem international ausgerichtet, gerade in naturwissenschaftlichen Fächern.“
MANGELNDE DIGITALISIERUNG UND SCHWINDENDER STEUERVORTEIL
Zum Hemmschuh könnten wegen der rasant zunehmenden Bedeutung von Daten für die Entwicklung von neuen Therapien auch Versäumnisse im Bereich der Digitalisierung werden. In der föderalistischen Schweiz, in der das Gesundheitswesen Sache der Kantone ist, gerät das Erfassen und Zusammenführen von klinischen Daten zur Herkulesaufgabe. Hinzu kommt die Skepsis der Bevölkerung in Sachen Datenschutz. Forschungsprojekte und Medikamenten-Studien weichen schon jetzt oft an große Kliniken etwa in den USA oder in Asien aus. „Bei den Patenten im Bereich Digitalisierung und künstliche Intelligenz im Life Science Bereich ist die Schweiz im Hintertreffen gegenüber anderen Life-Science-Clustern“, stellt EY-Expertin Hecht fest.
Weniger Hilfestellung ist künftig von einem Schweiz-typischen Aktivposten zu erwarten: Nach der im vergangenen Jahr beschlossenen globalen Mindeststeuer von 15 Prozent für große Konzerne dürften die Abgaben für große Pharmaunternehmen steigen. Allerdings könne die öffentliche Hand das wohl zumindest teilweise kompensieren, etwa durch verstärkte Investitionen in die Forschung und Subventionen.
Schlussendlich macht der Branche die zunehmend kritischere Haltung der traditionell wirtschaftsfreundlich eingestellten Schweizer gegenüber Belangen großer Konzerne zu schaffen. „Viele misstrauen Unternehmen und sind der Ansicht, dass sie zu viel Freiraum ausnützen“, sagt Meinungsforscher Michael Hermann. In den USA werde die Pharmaindustrie von der Öffentlichkeit und der Politik bereits sehr kritisch angeschaut, unter anderem wegen der enormen Gewinne, warnt Politologe Emmenegger. „Das kann aus den USA jederzeit auf die Schweiz überschwappen.“
INNOVATIONEN VERSCHLAFEN
Vorerst ist in Basel, wo am Schnittpunkt der drei Länder Schweiz, Deutschland und Frankreich ein Pharmacluster von Weltruf gewachsen ist, die Welt aber noch in Ordnung. Die Schweiz sei dank des guten Zugangs zu in- und ausländischen Fachkräften, des hervorragenden Umfelds für Forschung und Wissenschaft und des leistungsfähigen Gesundheitssystems für die Branche noch immer attraktiv, sagt Roche-Chef Severin Schwan. „Aber natürlich muss das Land wie jeder andere Standort auch aufpassen, um wirklich an der Spitze zu bleiben.“
Aufpassen muss auch die Branche selbst, denn einige Weichenstellungen und innovative Therapieansätze hat sie bereits verschlafen. Als die Krebs-Immuntherapie vor einigen Jahren zum Siegeszug ansetzte, verpassten Roche und Novartis den Einstieg. Ähnliches droht bei der sogenannten mRNA-Technologie. In dem Schlüsselbereich, dank dem in Rekordzeit Impfstoffe gegen das Coronavirus entwickelt wurden und dessen Potenzial weit über Vakzine hinausreicht, spielen Schweizer Unternehmen praktisch keine Rolle.
Erfolgsverwöhnter Schweizer Pharmabranche drohen Gefahren
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