Unsere Gesellschaft hat uns darauf trainiert, Fehler zu vermeiden. Das führt dazu, dass wir neue, unbekannte Wege nicht gehen. Anstatt zu „Machern“ — im Sinne der amerikanischen „Just-do-it-Mentalität“ — werden wir zu „Vermeidern“. Wir versuchen, unseren Wohlstand und unsere vermeintliche Sicherheit zu schützen und zu verteidigen.
Dabei ist es genau andersherum: Nicht Dinge zu vermeiden, hat uns Menschen erfolgreich gemacht, sondern unser Pioniergeist, unser Mut, Neues zu wagen. Wer Fehler vermeidet, orientiert sich an der Vergangenheit und damit an Umständen, die in unserer schnelllebigen und dynamischen Welt kein zweites Mal eintreten.
Ich weiß, wovon ich rede. In meinem Leben wurde mir unzählige Male gesagt: Das geht nicht. Das kannst du nicht. Ich habe es trotzdem gemacht. Immer und immer wieder. Fehler inklusive. Warum ist das wichtig? Weil es zeigt, wie sehr es sich lohnt, Grenzen zu überschreiten.
Kurz zu meiner Geschichte: Ich wurde mit einem Gendefekt geboren – meine Sehfähigkeit beträgt ein Zehntel eines normalsichtigen Menschen. Trotzdem habe ich bei den Paralympischen Spielen in Innsbruck und Lillehammer Bronze geholt und bin dabei mit bis zu 120 km/ die vereiste Piste heruntergefahren. Der Weg dahin führte über das Ausprobieren, über meinen Mut, die Herausforderung anzunehmen — obwohl viele nicht an mich geglaubt haben.
Ein beeindruckendes Vorbild für mich ist Reinhold Messner. Er hat als erster Mensch zusammen mit Peter Habeler den Mount Everest ohne Sauerstoffflasche bestiegen. Viele Experten zweifelten, daß eine solche Höchstleistung unter diesen Voraussetzungen zu schaffen ist. Aber Messner glaubte an sich, an seine Fähigkeiten und nahm das Ziel mutig in Angriff. Er probierte es aus und er schaffte es. So schwer und doch so einfach. Spitzenleistungen gelingen nur durch Probieren.
Kein Richtig und kein Falsch
Eindeutige Fehler gibt es nur dort, wo es ein eindeutiges Richtig und ein eindeutiges Falsch gibt. Diese Parameter sind überholt. Die Komplexität von wirtschaftlichen Abläufen und die sich in Sekundenschnelle verändernden Rahmenbedingungen zwingen uns, auf Flexibilität statt auf Perfektion zu setzen. Wir müssen mutig sein, wir müssen ausprobieren — auf das eigene Können vertrauen, in turbulenten Zeiten aktiv bleiben und immer bereit zu sein, Altes loszulassen und Neues entstehen zu lassen.
Mit dem Begriff der Probierkultur meine ich nicht, das wahllose Ausprobieren, sondern immer das Ausprobieren mit der Orientierung am Ziel. Allein die unterschiedliche Energie, die sich aus den Worten „Fehler“ und „Probieren“, im Sinne der Neuro-Linguistischen-Programmierung (NLP) ableiten lässt, ist nicht zu unterschätzen.
Um Spitzenleistungen im Profiport zu erreichen, ist konsequentes Training erforderlich. Auch dort gilt es auszuprobieren, um Bestleistung zu erreichen. Es reicht nicht, andere zu kopieren. Es geht darum, das eigene Talent, die eigenen physischen und psychischen Voraussetzung optimal einzusetzen. Nur so wird das Ziel, bei Olympia dabei zu sein, Wirklichkeit. Als Unternehmer sind es meine Stärken, die ich mit den Chancen am Markt im Einklang bringen muss, um erfolgreich zu sein.
Das unendliche Spiel
In seinem Buch „Infinity Game“ beschreibt Simon Sinek unsere Wirtschaft als Spiel, bei dem nicht alle Regeln und Mitspieler bekannt sind. Auch das Ziel ist nicht von Beginn an eindeutig. Sineks Vergleich beschreibt unsere Wirtschaft als ein unendliches Spiel. Die Mitspieler, die Spielregeln und das Ziel ändern sich ständig. Orientierung geben uns Werte, die wir im Unternehmen leben, wie Gerechtigkeit, Innovation, sozialer Ausgleich, Nachhaltigkeit usw. Der Vergleich des unendlichen Spiels rückt das Konzept der Probierkultur in den Mittelpunkt.
Im unendlichen Spiel gibt es keine Fehler, denn es gibt keine stabilen Regeln. Es ist der Versuch mit Kreativität, mit Intuition und Anpassungsfähigkeit Neues zu probieren. Wissenschaft, die einzig und allein auf Erkenntnissen aus der Vergangenheit, auf Versuchen und Testreihen mit bekannten Einflussfaktoren aufbaut, ist für die moderne Zeit zu langsam. Das hat uns die Pandemie deutlich aufgezeigt.
Stattdessen gilt es, auf neue Energiequellen und Energieträger zu setzen. Es gilt, Lieferketten resilienter zu gestalten. Es gilt, politische Konflikte einzukalkulieren. Es gilt, steigende Zinsen und Inflation zu berücksichtigen. Es gilt, sich auf verändernde Geschäftsmodelle einzustellen und rechtzeitig die Weichen für Veränderungen zu stellen. Damit begeben wir uns immer wieder auf unbekanntes Terrain und das bedeutet, ausprobieren.
Unternehmerisches Risiko
Aus dem Probieren entsteht Ungewissheit und das Gefühl der Ungewissheit ist manchmal kaum auszuhalten. Trotzdem ist sie notwendig, um Neues zu wagen. In diesem Kontext ist der Unternehmer, der das Risiko verantwortet, im Vorteil gegenüber einem klassischen Manager.
Letzterer ist für seine Handlungen anderen rechenschaftspflichtig, spielt nach Regeln, die er von seinen Stakeholdern erwartet, etwa die Regel, keine Fehler zu machen. Dieses Spiel nach Regeln lässt ihn das Risiko, Dinge auszuprobieren, vermeiden. Dadurch katapultiert er sich selbst aus dem unendlichen Spiel.
Der Unternehmer ist für sein Handeln selbst verantwortlich. Es ist sein Eigentum und seine Reputation, mit denen er haftet. Wer diesen Vorteil erkennt, ist für das unendliche Spiel bereit. Die schnellen Entscheidungsmöglichkeiten des Unternehmers, der niemandem Rechenschaft ablegen muss, sind Voraussetzungen, um neuen Spielregeln zu trotzen und den Mitbewerbern eigene Spielregeln mitzugeben.
Sich mit Althergebrachtem den neuen Herausforderungen zu stellen, wird nicht zum Erfolg führen. Für mich ist der Erfolg jenen Unternehmen gesichert, die außerhalb der alten Strukturen denken und die bereit sind, mit dem Bewusstsein und der Bereitschaft des Scheiterns — das Beste herauszuholen und mit vollem Einsatz zu handeln.
Erfolgreich scheitern: Warum wir eine Probierkultur statt einer Fehlerkultur brauchen
Autor
Josef Erlacher ist CEO einer Unternehmensberatung und Experte für Erfolgs-Mindset. Seine Stärke zieht der ehemalige Profisportler und Medaillengewinner aus seinem unbezwingbaren Willen, Grenzen zu überwinden. Erlacher ist Autor des Buches „Der Erfolg liegt in Deiner Hand“.
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