Washington/New York, 05. Nov – Schon vor der US-Kongresswahl ist klar: Egal wer die Mehrheit im Repräsentantenhaus gewinnt, die Kammer als Ganzes wird in den verbleibenden zwei Jahren der ersten Amtszeit von Präsident Joe Biden noch stärker polarisiert sein als sie es schon ist. Einer Analyse der Nachrichtenagentur Reuters zufolge verlassen in diesem Jahr doppelt so viele Gemäßigte das amerikanische Unterhaus wie ihre radikaleren Kollegen. Die Folge dürfte eine immer geringere Bereitschaft zu Kooperation und Kompromissen mit dem politischen Gegner sein. Damit droht sich die gegenwärtige Gesetzesblockade in den USA – der „gridlock“ – weiter zu verschärfen. Das könnte schnell zu einem Problem werden: Wenn der neue Kongress am 03. Januar zusammentritt, wird er sich dem Haushalt widmen müssen, um eine Zahlungsunfähigkeit des Bundes abzuwenden.
Im Repräsentantenhaus nimmt die Polarisierung seit Jahrzehnten zu. Dort stehen alle zwei Jahre alle 435 Sitze zur Wahl. Von den 50 Kongressabgeordneten, die als am meisten gemäßigt gelten, treten 13 Anfang November nicht mehr an oder haben ihre parteiinternen Vorwahlen verloren. Das entspricht grob einem Viertel. Der Anteil ist ungewöhnlich hoch: Bei den Wahlen zwischen 2012 und 2020 betrug die Quote nur etwa ein Achtel. Das ist auch der Anteil an Hardliner-Abgeordneten, die nun ausscheiden. Die Mehrheit der Kandidaten stammt ohnehin aus Wahlkreisen, bei denen wegen der Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung ein Sieg ihrer Partei als sicher gilt.
GERRYMANDERING TREIBT DIE RADIKALISIERUNG
Denn ein zentraler Faktor für die Polarisierung ist das „gerrymandering“. Dabei werden die Wahlkreise so gezogen, dass der Sieg einer Partei praktisch unausweichlich ist. Hintergrund ist dass die Grenzen der Wahlkreise für das Repräsentantenhaus alle zehn Jahre neu zugeschnitten werden müssen, da in der Kammer Bundesstaaten mit mehr Bürgern auch mehr Sitze zugeteilt bekommen. Oft werden die neuen Grenzlinien von Vertretern einer Partei gezogen, trotz aller Versuche über die Jahrzehnte, Gerrymandering in den Griff zu bekommen. Da sicher ist, welche Partei diesen Sitz gewinnen wird, besteht nur noch eine Konkurrenz zwischen Parteikollegen während der Vorwahlen. Dort sind radikalere Kandidaten im Vorteil.
„Man kann einen sicheren Sitz nur verlieren, wenn man die Vorwahl verliert“, sagt auch Tom Suozzi, ein gemäßigter Demokrat aus dem Bundesstaat New York. Er hat sich entschieden, in diesem Jahr lieber bei der Gouverneurswahl anzutreten als seinen Sitz im Repräsentantenhaus zu verteidigen. „Republikaner biedern sich bei den extrem Rechten, Demokraten bei den extreme Linken an.“ Für eine gemäßigte Politik oder Kompromiss bleibe da kaum noch Platz. Sein republikanischer Kollege Peter Meijer aus Michigan stimmt dem zu. Er verlor seine Vorwahl gegen einen Herausforderer vom rechten Flügel. „Wenn man sicher auf einem tief roten oder tief blauen Sitz hockt, ist es ziemlich einfach, mit Steinen zu werfen“, sagte er unter Verweis auf die traditionellen Parteifarben der Republikaner und Demokraten.
Der Auszug der Gemäßigten – Polarisierung und Blockade im US-Kongress
Quelle: Reuters
Titelfoto: Bild von Jens Junge auf Pixabay
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