Meseberg, 06. Mrz – „Wenn Sie wissen wollen, neben wem ich gestern Abend saß – es war Steffi Lemke“, scherzt Volker Wissing, als er in Meseberg gefragt wird, wie die Stimmung in der Ampel-Kabinettsklausur am Vorabend war. „Und es war ein schöner Abend“, schiebt der FDP-Politiker nach kurzer Pause hinterher. Denn er weiß, dass die Journalisten nur auf Dissens zwischen ihm und der Grünen-Umweltministerin etwa beim Planungsrecht für Infrastrukturprojekte lauern. Wissings Äußerung ist symptomatisch dafür, dass es derzeit zwei Ampel-Koalitionen aus SPD, Grünen und FDP zu geben scheint: eine harmonische, die im Gästehaus der Bundesregierung zwei Tage lang über Zukunftsfragen diskutierte; und eine zerstrittene, in der sich vor allem FDP und Grünen bei immer mehr Themen heftig angehen.
„Es stimmt schon, die FDP blockiert hinter den Kulissen derzeit sehr viele Projekte“, wird in der Bundesregierung eingeräumt. Das verzögert Gesetzesvorhaben oder verschiebt Abstimmungen auch auf EU-Ebene wie etwa bei der über ein Verbrenner-Aus 2035. Dazu wirkt FDP-Chef Christian Lindner qua Amt derzeit wie der Oberbremser der Koalition, weil er als Finanzminister sehr viele Ausgabewünsche der Kabinettsriege abblocken muss. Aber von einer großen Krise will in der Ampel niemand sprechen.
„Wenn der Eindruck entsteht, wir streiten wie die Kesselflicker, entspricht das zumindest in meinem Bereich nicht der Realität“, meint etwa Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne). Kanzler Olaf Scholz spricht in Meseberg mit Blick auf Vizekanzler und Finanzminister demonstrativ von „Christian und Robert“. Zuversicht will er in der Krise sicherstellen. Nur damit könne die Gesellschaft und Wirtschaft modernisiert werden.
NERVÖSE FDP – SUCHE NACH PROFIL
In SPD und bei den Grünen wird eingeräumt, dass die Liberalen schwere Monaten hinter – und vielleicht auch vor sich – haben. Nach den Wahlschlappen bei den Landtagswahlen in 2022 flogen sie unerwartet auch aus dem Berliner Abgeordnetenhaus. Für Bremen im Mai sieht es mit einem Umfragewert von vier Prozent nicht viel besser aus. Die Hoffnung, dass die Ampel im Bund Modell auch für die Länder werden könnte, ist völlig verflogen. „Die FDP hat deshalb das Gefühl, dass sie mehr Profil zeigen muss“, sagt Gero Neugebauer, Berliner Politologe, zu Reuters. Also tritt sie nun bei Vorhaben auf die Bremse, bei denen sie das Gefühl hat, in der Koalition mit Grünen und SPD zu große Zugeständnisse machen zu müssen.
So hielt die FDP in letzter Minute die EU-Abstimmung für das Aus für den Verbrennermotor 2035 an, weil sie noch die Technologieoffenheit und damit die Chance für die Verwendung von E-Fules nach 2035 wahren will. Bei dem von Wirtschafts- und Bauministerium forcierten schrittweisen Abschied von Gas- und Ölheizungen tritt sie auf die Bremse, um eine „Verschrottungswelle“ zu verhindern – auch wenn Bauministerin Klara Geywitz (SPD) in Meseberg daran erinnert, dass man die gemeinsam vereinbarten Klimaschutzziele 2045 ohne einen sehr schnellen Umstieg auf CO2-freie oder -arme Heizungssysteme gar nicht erreichen wird.
Wissing wiederum legt im Streit um das Planungsrecht nach und fragt – ohne die Grünen zu nennen -, wie er denn auf Straßenbau verzichten solle, wenn doch sechs Millionen Menschen mehr in Deutschlands lebten als in der Verkehrsplanung 2010 bis 2014 angenommen und gleichzeitig die Zahl der Paketsendungen explodiere.
SCHOLZ UND DIE GRÜNEN
Vor allem bei den Grünen kommt dies nicht besonders gut an. Denn die Partei hat eine große Agenda und muss am meisten darauf achten, dass die Klimaschutzziele auch erreicht werden. Gleichzeitig sind die Wahl- und Umfrageergebnisse der Grünen auch nicht mehr berauschend. In Berlin wurden die Grünen geschockt, als die SPD sich plötzlich doch nicht für die Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition entschied, sondern für eine Juniorrolle unter der CDU. Die erfolgsverwöhnten Grünen müssten erkennen, dass sie nicht mehr automatisch bevorzugter Koalitionspartner von SPD und CDU seien wie in den vergangenen Jahren, heißt es bei den Sozialdemokraten mit einer gewissen Schadenfreude. „Das liegt auch daran, dass manchmal zuviel Ideologie in den Grünen-Positionen steckt“, erklärt ein führender SPD-Politiker den Stimmungsumschwung mit Blick auf die Berliner Verkehrspolitik.
Und Kanzler Scholz hellt die Stimmung beim Grünen-Koalitionspartner auch nicht auf: „Es ist verwunderlich, dass sich der Kanzler sehr oft latent nahe bei der FDP positioniert“, meint Neugebauer. Er sei sich nicht sicher, dass sich der „Fortschritts“-Begriff des Kanzlers wirklich mit dem der Grünen decke. Beim Planungsrecht stehen Scholz und die SPD der FDP-Forderung viel näher, dass alle Infrastrukturprojekte beschleunigt werden müssten.
Dass die Koalition etwa im Streit um den Haushalt 2024 wirklich platzen könne, damit rechnet auf Nachfrage aber niemand bei den drei Parteien. In der SPD wird als größtes Risiko für den Kanzler angesehen, dass sich im Bund eine ähnliche Stimmung wie bei den Berlin-Wahlen ausbreiten könnte – nämlich ein allgemeiner Verdruss mit der „Fortschrittskoalition“, die Scholz eigentlich über das Jahr 2025 hinaus fortführen wollte.
Analyse: Meseberger Suche nach der Zuversicht – auch in der Ampel
Quelle: Reuters
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