München, 04. Jan – Virtuelle Hauptversammlungen stoßen bei deutschen Großinvestoren auf Skepsis. Die Fondsgesellschaft Deka will den Unternehmen bei den in den nächsten Monaten anstehenden Abstimmungen über die dauerhafte Einführung des neuen Formats nur einen Freibrief für ein Jahr geben, wie Deka-Corporate-Governance-Experte Ingo Speich im Interview der Nachrichtenagentur Reuters ankündigte. Er hält virtuelle Hauptversammlungen, an denen die Aktionäre nur über das Internet teilnehmen können, für nicht gleichwertig mit den traditionellen Präsenztreffen in großen Hallen. „Mit der rein virtuellen Hauptversammlung besteht das Risiko, dass sich Vorstand und Aufsichtsrat einen Elfenbeinturm schaffen, in dem sie sich von den Aktionären abschotten können“, warnte Speich. „Doch werden sie schließlich auch dafür bezahlt, dass sie sich einmal im Jahr den Aktionären stellen.“
Dax-Unternehmen wie Siemens und Siemens Energy wollen die Satzung so ändern lassen, dass der Vorstand zunächst für zwei Jahre virtuelle Hauptversammlungen ansetzen darf. Nach dem 2022 beschlossenen Gesetz wäre sogar eine Erlaubnis für bis zu fünf Jahre möglich, doch das lehnen einflussreiche US-Stimmrechtsberater wie ISS ab. Der deutsche Fondsverband BVI will sich auf zwei Jahre einlassen.
Doch Speich, einer der führenden Experten für gute Unternehmensführung in Deutschland, ist selbst das zu viel: „Negativ-Beispiele wie E.ON und Lufthansa zeigen, dass wir mit dem Vertrauensvorschuss an die Unternehmen sparsam umgehen müssen.“ Sie hätten die Aktionärsrechte bei den Online-Hauptversammlungen während der Corona-Pandemie zu stark beschnitten. Auch Union Investment, die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken, hält wenig vom virtuellen Format. Ob sie sich auf den Hauptversammlungen durchsetzen, ist jedoch fraglich. Bei den meisten Unternehmen ist für Satzungsänderungen eine Dreiviertelmehrheit nötig.
ÖFFENTLICHE KRITIK HAT GRÖSSERE SCHLAGKRAFT
Vor allem Rede- und Fragerechte kommen vielen Aktionären im virtuellen Format zu kurz. „Für Kleinaktionäre ist die traditionelle Hauptversammlung die einzige Gelegenheit, echten Kontakt zu Vorstand und Aufsichtsrat aufzunehmen“, sagte der Deka-Manager. Und selbst für institutionelle Aktionäre sei sie ein Türöffner für Gespräche mit dem Aufsichtsrat. „Kritik, die öffentlich in einer Hauptversammlung geübt wird, hat eine größere Schlagkraft als ein Austausch im stillen Kämmerlein“, sagte Speich. „So manche Entscheidung im Aufsichtsrat wurde unter dem Eindruck der Hauptversammlung angepasst.“
Die Kritik vieler Unternehmen an der Länge traditioneller Hauptversammlungen und am hohen Aufwand dafür hält Speich für nicht stichhaltig: „Sie muss nicht zwangsläufig neun oder zehn Stunden dauern, wenn sie nur stringenter geführt würde. Es ist Sache des Versammlungsleiters, eine ausufernde Generaldebatte zu kontrollieren.“ Der Deka-Manager wünscht sich für die Zukunft eine „hybride“ Hauptversammlung. „Wer möchte, sollte in die Halle gehen können.“ Alternativ sollten die Aktionäre per Video live reden und auch abstimmen können. „Das hat es bisher nicht gegeben.“
Für das laufende Jahr planen die meisten Dax-Unternehmen aus Deutschland virtuelle Hauptversammlungen. Das ist zum letzten Mal ohne eigenen Beschluss möglich. In einer Umfrage des „Handelsblatts“ bekannten sich nur BASF, die Deutsche Telekom, Henkel, der Dax-Neuling Porsche AG und Symrise zu Präsenztreffen. 17 Firmen bevorzugen das Online-Format. Im vergangenen Jahr hatte nur die Telekom die Aktionäre zur ordentlichen Hauptversammlung nach Bonn eingeladen. Auch die Hauptversammlung von Volkswagen zur Ausschüttung einer Sonderdividende fand in Präsenz statt.
Wertpapierhaus Deka bremst bei virtuellen Aktionärstreffen
Quelle: Reuters
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